Wie sich mit der Pandemie Führung verändert hat – und warum es kein Zurück zum Früher gibt
Von der Nah- zur Fern-Beziehung: Ist das ein Problem?
Die Pandemie hat die Arbeitswelt in den Ausnahmezustand versetzt. Home Office und Kontaktbeschränkungen prägen bis auf weiteres die Normalität. Das gilt auch für die Beziehung zwischen der Führung – im Unternehmen wie im Projekt – und den Geführten. Seit COVID-19 zu Abstand zwingt, arbeiten viele zu Hause, nur wenige sitzen mit weitem Abstand im Büro. Wie sehr der direkte Kontakt, zum Chef, zu den Kolleginnen und Kollegen, der einen oder dem anderen fehlt, das ist so unterschiedlich, wie es die einzelnen Beziehungen sind. Es ist ein Mythos, dass täglicher direkter Kontakt, Teamarbeit und flache Hierarchien schon garantieren, dass alle immer harmonisch, konfliktfrei und glücklich zusammenarbeiten. Dafür lässt sich viel tun, und das sogar unabhängig davon, ob in einer Nah- oder Fernbeziehung mit den Chefs und den Kolleginnen und Kollegen gearbeitet wird.
Die drei Fragezeichen: Wie verändern sich Produktivität, Ziele, Motivation?
Ob alle im Büro sind oder die Hälfte zu Hause, ändert nichts an den drei zentralen Führungsaufgaben: Ergebnisse erzielen, also die Produktivität sicherstellen; Richtung angeben, aus denen sich im Idealfall die Ziele ergeben; Engagement schaffen. Dazu kommen natürlich noch viele andere, aber das sind die wichtigsten. Und sie gelten für Führungskräfte jeder Sorte, vom Fußballtrainer bis zum Projektleiter und Geschäftsführer.
Die drei Fragezeichen beim Wechsel von Nah- zur Fernbeziehungen lauten also:
1. Wie halte ich die Produktivität aufrecht, wenn Mitarbeiter von zu Hause aus arbeiten und die Teams über längere Zeit nur virtuell zusammenarbeiten können?
2. Wie kann ich sicherstellen, dass alle die Richtung beibehalten und ihre Ziele kennen, wenn wir selbst kaum wissen, wie sich die Lage entwickelt?
3. Wie schlägt sich das mobile Arbeiten auf das Engagement nieder und wie erhalte ich das Zusammengehörigkeitsgefühl im Team und im Unternehmen?
Produktivität: Präsenz wird (nicht mehr) überbewertet
Wen hat das wirklich überrascht? Dort, wo es nicht zwingend erforderlich ist, am Arbeitsplatz anwesend zu sein, also in den verwaltenden, kreativen, weitgehend am PC zu erbringenden Funktionen, hängt die Produktivität weniger von der Präsenz ab, als die meisten zuvor dachten (oder zugeben wollten). Denn wie sonst wäre zu erklären, dass noch vor wenigen Monaten Home Office als Ausnahme behandelt worden ist. Inzwischen hat sich bestätigt, dass die Produktivität weniger gelitten hat als befürchtet. Die Arbeit wird also gemacht, auch wenn kein Chef in der Nähe ist. Teams organisieren sich selbständig(er) und kooperieren.
Die Herausforderungen für einzelne Mitarbeiter sind unterschiedlich: Manche KollegInnen haben zu Hause mit Kindern reichlich Stress, anderen fällt die Decke auf den Kopf. Jüngere und ältere Kollegen, mit Kindern und ohne, mit Garten oder schlechter Internetverbindung, kurz: Die mobilen Arbeitsbedingungen unterscheiden sich weit mehr als die im Büro. Wie lässt sich dem aus Führungssicht gerecht werden? Mit den drei T, die angepasst werden: Technik, Timing, Transparenz.
Drei Tipps für eine produktive Fernbeziehung
1. Technik: Was helfen die besten Tools, wenn sie nur die Hälfte kennt?
Digital war schon vorher, seit der Krise ist es Standard. Erste Pflicht ist es deshalb, sicherzustellen, dass die Technik funktioniert, der Zugang zum Server über sichere Verbindungen, die Besprechungs- und Planungstools auf den Laptops zuhause laufen – und sie auch jeder kennt und damit arbeiten kann. Dafür sind Trainings und Workshops sinnvoll, die Lücken füllen und einem auch mal sagen, wie man die Kamera besser einstellt, um den „Zombie-Teint“ wegzukriegen. Absolutes Must-have: ein jederzeit ansprechbarer, superfreundlicher IT-Support.
2. Timing: Mehr Zeit für Teamtreffen
Grüner Haken, gelber Haken, roter Haken – auf MS Teams lässt sich einstellen, wer da ist und ansprechbar. Ob sich Teams jede Woche oder jeden Tag kurz treffen, entscheidet jedes Team für sich. Wichtig ist, dass es einen regelmäßigen Austausch gibt, in dem auch Zeit ist, um ein paar persönliche Worte zu wechseln.
Genauso wichtig ist, beim Timing von Projekten zu berücksichtigen, dass die 9-bis-6-Regelung nicht für alle die produktivste ist, und Flexibilität zu ermöglichen. Wer also z. B. nachmittags ziemlich müde, frühmorgens aber ziemlich kreativ ist, profitiert von der Zeitsouveränität, die Arbeit dann zu erledigen, wenn die beste Zeit dafür ist. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit keine klaren Grenzen mehr zu ziehen sind – also sollte es dabei bleiben, dass Mails abends um zehn nur in Notfällen rausgehen. Vor allem vom Chef, der den höchsten Einfluss auf das hat, was (informell) erwartet wird.
3. Transparenz: Je weniger vorhersehbar, desto mehr informieren
Die VUCA-Welt der Unsicherheit ist für jeden Realität. Gegen die Ungewissheit hilft, in möglichst kurzen Abständen alle zu informieren, was der Stand der Dinge ist. Wo es vormals nur einmal im Quartal eine Versammlung gab, in der die Geschäftsführung über Projekte und Ziele informiert haben, empfiehlt sich nun ein häufigeres Update. Das stellt sicher, dass alle weiter an den kleinen und großen Zielen arbeiten. Trotz der manchmal wackeligen Bilder, wenn sich eine Vielzahl von Kollegen gleichzeitig in Briefmarkengröße auf dem Bildschirm gesellen, schafft die regelmäßige Zusammenkunft nicht nur Verbundenheit, sondern auch Transparenz.
Ziele bestimmen: Was sich aus Krisenzeiten für Ziele lernen lässt
Durch die Pandemie haben sich Jahresziele in vielen Unternehmen in Luft aufgelöst. Veranstaltungsabsagen, Projekte wurden gestoppt, Trainings abgesagt. Das Kunststück dabei ist für Führungskräfte, die vielen konkreten Ziele an neue Situationen anzupassen, die großen Ziele dabei aber nicht aus den Augen zu verlieren. Und beides über Distanz.
Drei Tipps für den Umgang mit Zielen in unsicheren Zeiten
1. Ziele in kürzeren Abständen anpassen: Soll es bei Jahresgesprächen bleiben? Kürzere Abstände können auch in Nicht-Krisenzeiten helfen, zwischen Zielen, Veränderungen und Ergebnissen eine realistische Balance zu schaffen. Das bedeutet, sich öfter mit den Teams und Mitarbeitern auszutauschen als zuvor, um die Unterschiede in der Bewältigung der neuen Arbeitssituation mitzubekommen.
2. Das große Ganze im Auge behalten: Was wird aus der Strategie? Beim Blick aufs Ganze, können sich die Unternehmenswerte als Anker und Leuchttürme zugleich bewähren. Mag man die Rede von „Vision“ und „Mission“ oft belächeln, ist ihre Unabhängigkeit von der konkreten Lage gerade der Vorteil: Wie können wir das, was wir sein und leisten wollen, unter veränderten Bedingungen in neue, konkrete Ziele übersetzen?
3. Spielräume erweitern: Wenn Führen aus der Ferne mehr Zeit für Kommunikation mit den Geführten verlangt, woher die Zeit nehmen? Aus dem Abgeben von Verantwortung zugunsten erweiterter Spielräume für die Teams bis zum einzelnen Mitarbeiter. In kleineren Einheiten können Ziele leichter angepasst und verfolgt werden. Dafür gibt es mittlerweile viele Tools, von Trello bis MS Teams, die jederzeit den Überblick liefern und bei Abweichungen schnell Absprachen ermöglichen. Als Führungskraft kommt man nur dann ins Spiel, wenn größere Probleme zu lösen sind. Das schafft den Freiraum, um sich auf die wichtigste Führungsaufgabe zu konzentrieren, die zugleich am schwersten aus der Distanz zu leisten ist: das Engagement und die Motivation, den „Spirit“, zu bewahren.
Engagement aufrechterhalten: Nähe ist keine Raum-, sondern eine Zeitfrage
Wenn es etwas gibt, was maßgeblich von Führung abhängt, dann ist es das Engagement und die Motivation. Beides ist eng mit der individuellen Persönlichkeit verknüpft – und zwar von beiden Seiten. Schaut man sich Umfragen zur Arbeitszufriedenheit an, sieht es – auch jenseits von Corona und Fern-Beziehungen – bestenfalls mittelmäßig aus.
Drei Tipps für Motivation aus der Ferne
1. Aktiv nachfragen: Wer wissen will, wie es um die Stimmung und die Motivation bestellt ist, muss aktiv danach fragen. Und zwar nicht nur einmal im Jahr in der routinisierten Mitarbeiterbefragung, die es fast überall gibt. Regelmäßige „Moodmeter“ zum Beispiel geben mit geringem Aufwand ein gutes Bild von der aktuellen Stimmungslage in der Mitarbeiterschaft. Hier kann jeder anonym in einer Minute klicken, wie Stimmung und Lage sind. Das gibt einen groben Überblick, kann aber das direkte Gespräch nicht ersetzen. Ob Video oder Audio und wenn es nur zehn Minuten sind – nur so lässt sich das Gefühl vermitteln, dass der einzelne zählt.
2. Ansprechbar sein: Das mobile Arbeiten verstärkt die Unterschiede zwischen den einzelnen Mitarbeitenden, angefangen von der Fähigkeit, sich selbst zu organisieren, bis hin zur Familiensituation. Dafür Verständnis zeigen und das auch in den Teams vermitteln.
3. Authentisch bleiben: Der letzte und vermutlich wichtigste Tipp ist: menschlich bleiben. Das, was sich nicht virtualisieren lässt, ist das Verhältnis zwischen Menschen, und das gilt in der Nah- wie Fernbeziehung mit dem Chef. Also auch selbst mal erzählen, wie’s persönlich so geht, auf Augenhöhe und nicht vom Podest des „Ich hab alles im Griff“.
Fernbeziehungen können direkte menschliche Kontakte nicht ersetzen. Sie machen bewusst, wie wertvoll sie sind. Und sie können, mit der richtigen Einstellung und veränderten Prioritäten auch gut funktionieren.
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